* 46 *

Jenna trommelte gegen die lila Tür. »Sep!«, schrie sie. »Sep!« Ullr nutzte die Gelegenheit. Er wand sich aus ihrem Arm und flitzte davon, aber Beetle bekam seinen Schwanz zu fassen, als er an ihm vorbeischoss. Ullr schrie und zappelte vor Wut. Ohne auf seine scharfen Krallen zu achten, hob Beetle ihn hoch und klemmte ihn sich unter den Arm. »Jenna, wir werden Septimus da rausholen«, sagte er. »Koste es, was es wolle. Autsch! Hör damit auf, Ullr.«
Jenna sank verzweifelt gegen die verriegelte Tür. »Aber wie denn?«, jammerte sie. »Wie?«
»Ich besorge mir eine Axt und schlage die Tür ein«, antwortete Beetle leise und sah ihr in die Augen.
Sie erwiderte seinen Blick. Sie wusste, dass er es ernst meinte. »Gut«, sagte sie.
Sie traten den Rückzug durch den Marmorgang an. Zum Abschied brüllte Beetle noch: »Wir kommen wieder!« Die Tür erwiderte ungerührt seinen Blick.
Die Frau mit dem Pferdegesicht wartete auf der Galerie mit den vielen Kerzen. Als Jenna in der Geheimtür erschien, sprang sie von der Bank auf, auf der sie gesessen hatte. »Prinzessin«, rief sie, baute sich vor Jenna auf und versperrte ihr den Weg.
»Ja?«, erwiderte Jenna barsch.
Die Hüterin lächelte aalglatt, und ihre selbstgefällige Miene reizte Jenna. »Wohin des Wegs?«
»Eine Axt holen«, erwiderte Jenna scharf – und bereute es in der nächsten Sekunde.
Doch die Hüterin reagierte nicht. »Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen«, sagte sie. »Sie können ja Ihren Diener danach schicken.«
»Meinen Diener?«
Die Hüterin deutete auf Beetle, der noch im Gang hinter Jenna steckte und mit Ullr beschäftigt war.
Jenna war empört. »Er ist nicht mein Diener.«
»Was ist er dann?«
»Er ist kein Was, sondern ein Wer. Und im Übrigen geht Sie das nichts an. Würden Sie mich jetzt bitte vorbeilassen? Wir haben zu tun.« Jenna wollte um die Hüterin herumgehen, doch wieder wurde ihr der Weg versperrt.
»Einerlei was Sie vorhaben«, sagte die Hüterin, »es besteht kein Grund zur Eile. Sie haben eine Ewigkeit dazu Zeit. Sie sitzen nicht mehr auf dem Eselskarren der Zeit, der für alle Ewigkeit weiterrollt.«
»Danke«, erwiderte Jenna frostig. »Aber ich mag den Eselskarren. Er bringt einen wenigstens irgendwohin. Und jetzt entschuldigen Sie mich.«
»Sie sind noch jung, deshalb will ich Ihnen verzeihen. Und jetzt geben Sie mir den Schlüssel.«
»Was?«
»Den Schlüssel.« Die Hüterin deutete auf den Schlüssel zum Königinnengemach, der an Jennas Gürtel hing. Es war ein wunderschöner goldener Schlüssel, der mit einem Smaragd besetzt war.
»Nein!«
»Doch!« Die Hüterin packte Jenna und grub ihre Fingernägel in ihren Arm. »Sie müssen ihn mir geben«, zischte sie. »Er gehört dem Haus. Sie haben ihn gestohlen.«
»Nein!« Jenna geriet in Wut. »Lassen Sie mich los!«
Die Hüterin schüttelte den Kopf. »Erst wenn Sie mir den Schlüssel geben.« Sie lächelte, und ihr Pferdegebiss funkelte ihm Kerzenlicht. »Ich kann warten. Zeit bedeutet mir nichts, aber für Sie ist sie noch von Bedeutung, wie mir scheint. Ich werde warten. Wir können hier so lange stehen, wie Sie wollen.« Die Fingernägel bohrten sich tiefer in Jennas Arm.
»Lassen Sie sie los.« Beetles Stimme hatte einen scharfen, drohenden Unterton, den Jenna gar nicht von ihm kannte.
»Ihr Diener ist eine treue Seele«, feixte die Hüterin.
Plötzlich vernahm sie ein tiefes, schnarrendes Knurren. Sie blickte nach unten – direkt in die wütend funkelnden Augen NachtUllrs, der sprungbereit neben ihr saß. »Lassen Sie die Prinzessin los«, sagte Beetle ganz ruhig, »sonst hetze ich den Panther auf Sie.«
Die Hüterin ließ los. Panther war Panther, in welcher Zeit auch immer.
Beetle fasste Jenna an der Hand. »Komm, wir müssen eine Axt suchen.«
Vor Angst wie gelähmt, beobachtete die Hüterin, wie sie zügig die Galerie überquerten und dann, als der Panther plötzlich einen Haken schlug und eine der Turmtreppen hinaufjagte, in Laufschritt fielen.
»Ullr«, rief Jenna und rannte ihm nach. »Komm zurück. Ullr!«
Solche Aufregung war die Hüterin nicht gewohnt, und so setzte sie sich wieder auf die Bank und wartete – denn sie wusste, früher oder später kam im Foryxhaus alles zu denen, die warteten.
Die Turmtreppe war schmal und steil und schien kein Ende zu nehmen. Jenna stürmte hinter Ullr hinauf, und irgendwann kam sie an einen kleinen überwölbten Durchgang. Die Treppe führte nach oben, aber hinter dem Durchgang sahen sie einen langen, dunklen Korridor, den ein paar Kerzen spärlich beleuchteten. Sie blieb stehen und schöpfte Atem. Welchen Weg hatte Ullr genommen?
Beetle holte sie ein. »Kannst du ihn sehen?«, keuchte sie.
Beetle war so außer Puste, dass er nur den Kopf schüttelte. Dann sah er im Schein der allerletzten Kerze am Ende des Korridors Ullrs rote Schwanzspitze aufblitzen. »Da!«
Jenna raffte ihr langes Kleid und sauste mit frischer Kraft den Korridor hinunter, dicht gefolgt von Beetle. Der Korridor folgte dem Grundriss des achteckigen Turms, und jede 135-Grad-Kurve krümmte sich so, dass der Blick auf die nächste verwehrt war. Im Unterschied zum Hauptgebäude war der Turm nicht mit prächtigem Marmor ausgestattet, und ihre Schritte hallten von nackten Steinplatten wider. Jenna und Beetle waren so damit beschäftigt, Ullr einzuholen, dass sie von den kleinen Räumen, die vom Korridor abgingen, keine Notiz nahmen. Jeder wurde nur von einer einzigen Kerze erleuchtet und von schattenhaften Gestalten bewohnt, die bedächtig ihren gewohnten Alltagsbeschäftigungen nachgingen, einige schon seit Tausenden von Jahren.
Jedes Mal, wenn Jenna und Beetle um eine Kurve bogen, sahen sie gerade noch, wie Ullrs Schwanz hinter der nächsten verschwand – dann hinter der übernächsten und der überübernächsten. Ein paar Bewohner des Turms schauten kurz auf, wenn der Panther vorbeiflitzte und gleich darauf Jenna und Beetle, aber keiner schenkte ihnen große Beachtung.
Als Jenna abermals um eine Ecke bog, bemerkte sie, dass von Ullrs Schwanz nichts mehr zu sehen war. Sie blieb stehen und verschnaufte. »Ich ... sehe ihn ... nicht mehr«, keuchte sie, als Sekunden später Beetle zu ihr stieß. »Er ist weg.«
Beetle lehnte sich an die Wand und rang nach Atem. Bis vor wenigen Tagen hatte er eine sitzende Lebensweise gepflegt, und die letzten Minuten hatten ihn einfach geschafft. »Aaaah ...«, war alles, was er als Antwort herausbrachte.
Plötzlich hallte ein Schrei durch den Korridor, und dann der freudige Ruf: »Ullr! Ullr! Ullr! Ullr!«
Jenna sah Beetle an, halb aufgeregt, halb erschrocken. »Das ist Snorri«, flüsterte sie.
»Tatsächlich?«
»Ja. Das ist sie. Oh, Beetle ... Snorri ist hier! Dann ... dann kann Nicko nicht weit sein.« Im nächsten Moment kam Jenna ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn Nicko gar nicht hier war – wenn ihm etwas zugestoßen war und nur Snorri hier war? Sie sah Beetle an. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich habe Angst, dass wir den weiten Weg umsonst gemacht haben und dass er gar nicht hier ist.«
Beetle legte den Arm um sie. »Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden«, sagte er. »Komm, lass uns nachsehen.«
Für Jenna wurde es der längste Weg, den sie je gegangen war. Sie gingen langsam und spähten in jeden schwach erleuchteten Raum. Im ersten standen zwei Betten und ein einfacher Tisch. Zwei Mädchen saßen an dem Tisch und unterhielten sich leise, eine Flasche Wein zwischen sich. Der zweite Raum erinnerte an eine Kasernenstube. Am Ende eines schmalen Betts mit zwei zusammengelegten Decken saß ein Mann und polierte eine glänzende Rüstung. Im dritten Raum war von Wand zu Wand eine Hängematte gespannt. Das einzige Möbelstück war eine große Truhe. Darauf saß ein alter Mann mit weißem Vollbart und zerrissener Seemannsuniform und strickte. Die Wände im vierten waren mit Büchern gesäumt. Im Halbdunkel erkannte Jenna die Silhouette einer Frau in einem langen, dunklen Kleid, die sich über einen Schreibtisch beugte und schrieb. Der fünfte Raum war leer. Im sechsten saßen drei Spitzhutträger und spielten ein Brettspiel. Im siebten war Snorri Snorrelssen.
Krampfhaft Beetles Hand haltend, trat Jenna leise ein und blieb im Schatten stehen. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie meinte, Snorri müsste es hören. Alles was sie sah, war Snorris weißblondes Haar, das im Kerzenlicht schimmerte, und Ullrs dunkler Körper, von ihren Armen umschlungen. Von Nicko war keine Spur zu sehen. Und dann ...
»Jenna?«, fragte eine Stimme aus dem Dunkel neben ihr. »Jenna! Oh, Jenna!« Sie hörte, wie ein Stuhl von einem Tisch weggerückt wurde und zu Boden polterte, spürte, wie ein Wirbelwind sie umfasste, und dann wurde sie hochgehoben und im Kreis herumgewirbelt – als sei sie wieder ein kleines Mädchen.
Nicko setzte Jenna wieder ab, aber sie ließ ihn nicht los. Beetle sah, wie sie das Gesicht in dem schmutzigen Seemannskittel ihres Bruders vergrub und wie ihre Schultern bebten. Er war sich nicht sicher, ob sie lachte oder weinte. Und er war sich noch immer nicht sicher, als sie wieder aufschaute, mit leuchtenden Augen und dem strahlendsten Lächeln, das er je gesehen hatte.
»Wir haben ihn gefunden«, lachte sie. »Wir haben ihn gefunden!«